Geschmacksfrage und Erziehungssache

Quelle: orf.at – 19.08.2018


Hunger ist stärker als Sättigung

Immer mehr Studien zeigen: Was Menschen in den ersten Lebensjahren essen, prägt ihre geschmacklichen Vorlieben bis ins Erwachsenenalter. Aber nicht nur das „Was“, auch das „Wie viel“ ist für eine gesunde Ernährung entscheidend. Beides richtig einzuschätzen, ist eine lebenslange Herausforderung.

Noch bevor Babys das Licht der Welt erblicken, wird ihr Geschmackssinn beeinflusst: Über das Fruchtwasser der Mutter kommen sie in Kontakt mit bestimmten Aromen, die für das frühkindliche Ernährungsverhalten bestimmend sein können.

Studien gibt es beispielsweise zu Karotten und Gewürzen wie Anis, wie der „Guardian“ berichtet. Isst die Mutter in der Schwangerschaft oft Karotten oder mit Anis gewürzte Speisen bzw. Tees, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Kleinkind später positiv auf Karottenbrei und entblähenden Anistee reagiert.

Meine Suppe ess’ ich nicht

Kleine Kinder an verschiedene Geschmäcker heranzuführen, vor allem was Gemüsesorten betrifft, gehört zu den größeren Herausforderungen für Eltern. Um zu vermeiden, dass sich die Kleinen in Richtung „Suppenkaspar“ entwickeln, sollten Eltern weder ängstlich noch umständlich mit bestimmten Lebensmitteln umgehen. Kinder sollten die Chance haben, verschiedene Gemüsesorten immer wieder zu kosten, auch wenn sie ihnen nicht gleich schmecken.

Dass sich Kinder phasenweise sehr einseitig ernähren und neue Lebensmittel und Speisen ablehnen, ist nicht ungewöhnlich. Diese Neophobie nimmt erst im Alter von etwa zehn Jahren wieder ab. In jungen Jahren haben Menschen wesentlich mehr Geschmacksknospen als Erwachsene.

Kinder reagieren daher stärker auf Bitteres – ein evolutionär bedingter Schutz vor giftigen Pflanzen, wie US-Wissenschaftler im Fachmagazin „Current Biology“ erläutern. Der führt aber auch dazu, dass Brokkoli und Spinat meistens nicht zu den Lieblingsspeisen der Kleinsten zählen.

Evolutionärer Vorteil wird zum Nachteil

Kinder zum „Aufessen“ zu zwingen, ist dabei nicht die richtige Gegenstrategie. Denn das kann dazu führen, dass Menschen Hungergefühl und Appetit auch im späteren Leben falsch beurteilen und ständig zu viel zu essen. Kinder sollten vielmehr lernen, ein Sättigungsgefühl zu erkennen und Portionsgrößen richtig einzuschätzen.

Auch hier schlägt die evolutionär bedingte Entwicklung des Geschmackssinns jenen ein Schnippchen, die im Überfluss leben: Wir sind in der Lage, nährstoffreiche Lebensmittel, allen voran zuckerhaltige, schnell zu identifizieren und bevorzugen diese auch.

Die frühesten Menschen konnten ihre Zeit nicht damit verschwenden, energiearmer Nahrung hinterherzujagen, berichtet „Current Biology“. Diese Vorliebe für süße, fette und salzreiche Speisen führt heute allerdings zu Volkskrankheiten wie Diabetes, Fettleibigkeit und Gefäßkrankheiten.

Knappheit erregt Interesse

Süßigkeiten vor Kinder zu verstecken, führt allerdings auch nicht zum gewünschten Ergebnis. Studien des Forschungszentrums für kindliches Übergewicht der Penn State University haben gezeigt, dass eine künstliche Verknappung bestimmter Lebensmittel dazu führt, dass Kinder umso mehr davon essen wollen. Kinder dafür zu belohnen, gesunde Speisen zu essen, hat ebenfalls einen unerwünschten Effekt: Es führt zu einer Abwertung dieser Nahrungsmittel.

BBC berichtet außerdem von einer polnischen Studie, die zeigt, dass Werbung für ungesunde Lebensmittel das Essverhalten negativ beeinflusst. Reklame für Junk Food im Fernsehen, in Sozialen Netzwerken und Apps führe dazu, dass Kinder und Erwachsene mehr essen als notwendig und zu oft zu ungesunden Lebensmitteln greifen. Die Ernährungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler fordern deswegen politische Maßnahmen, um solche Werbungen einzuschränken.

Ausgewogen schmecken lernen

Dieser Lernprozess geht in der Pubertät weiter – eine Zeit, in der Hormone und Appetit der Heranwachsenden verrücktspielen können. Auch wenn die Jugendlichen in der Teenagerzeit immer selbstständiger werden, sollten Eltern ein Auge auf ihr Essverhalten haben. Ohne Anleitung besteht die Gefahr, dass junge Menschen ein einseitiges Essverhalten entwickeln. Das betrifft ungesunde Lebensmittel und Übergewicht genauso wie Mangelernährung und Untergewicht.

Ein Problem, das in Finnland in der Schule angegangen wird: Dort wird Geschmackssensorik unterrichtet. Verschiedenste Lebensmittel kennenzulernen und den Geschmackssinn zu schärfen, ist bei den Finnen ein wichtiges Bildungsziel, wie die britische „Times“ berichtet. Das Programm scheint als gesundheitliche Vorbeugungsmaßnahme zu funktionieren, und die Zahl der adipösen Kinder nimmt ab. Laut „Times“ haben mittlerweile auch Länder wie Schweden, Dänemark und die Niederlande ähnliche Programme gestartet.

Satt ist nicht genug

Auch in Österreich fordern Ernährungsmedizinerinnen und -mediziner regelmäßig solche Präventionsprogramme. Laut dem Österreichischen Akademischen Institut für Ernährungsmedizin (ÖAIE) sind 3,4 Millionen Menschen hierzulande übergewichtig oder fettleibig. Hauptgrund dafür ist laut ÖAIE eine zu hohe Kalorienzufuhr, weil der Mensch darauf konditioniert ist, Fett zu speichern statt auszuscheiden.

Unser Hungergefühl macht uns einen zusätzlichen Strich durch die Rechnung. Denn unser Körper schickt starke Signale, wenn wir weniger Essen zu uns nehmen, als Energie gebraucht wird. Die Signale, die verhindern sollen, dass wir zu viel essen, sind dagegen relativ schwach.

 


Quelle: orf.at – 19.08.2018